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Ernst Klee (1942-2013) – Seine Bücher, sein Erbe
(Dr. Walter H. Pehle)
„Unbeirrbar für die Menschenwürde – Ernst Klee, Gesellschaftskritiker, Journalist, Historiker“ Eröffnungsvortrag zum zweiten Todestag, Dominikanerkloster, Uni Frankfurt, 8.-9. Mai 2015
Liebe Elke, liebe Mitstreiter und Mitstreiterinnen für die Würdigung von Ernsts zweitem Todestag, sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Dir, euch, Ihnen in der nächsten Dreiviertelstunde einen Überblick über die weite publizistische Arbeit Ernst Klees geben zu dürfen. Ernst war einer der mir besonders wichtigen Autoren und ein Freund, mit dem ich fünfunddreißig Jahre als Lektor zusammengearbeitet habe.
Der unerschrockene und unermüdlich tätige, vielfach ausgezeichnete Autor ist im Mai 2013 nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 73 Jahren verstorben. Hinterlassen hat er uns ein großes Erbe: mehr als dreißig Bücher, viele richtungsweisende Reportagen in DIE ZEIT und im Hessischen Rundfunk sowie mehrere Dokumentarfilme.
Bis auf wenige Ausnahmen sind seit 1974 seine Bücher bei S. Fischer Verlag Ffm. erschienen. In diesem Verlag, der von 1936 bis 1945 im Exil bestanden hat, konnte ich ab 1977 eine Buchreihe über die Zeit des Nationalsozialismus aufbauen, entwickeln und pflegen. Wegen der Umschlaggestaltung nannte man diese Erscheinungen „Schwarze Reihe“. Mit etwa 250 Publikationen wurde sie bis zu meinem Ausscheiden aus dem Verlag S. Fischer die weltweit größte Buchreihe dieser Art.
Die einzelnen Projekte habe ich nach dem Prinzip ausgesucht: Bücher müssen miteinander sprechen. Jedes neue Buch baut auf bereits vorhandenen auf, schafft inhaltliche Verbindungen zu und zwischen anderen Büchern. Ein Beispiel für diese Programmarbeit ist das Oevre Ernst Klees, insbesondere sein Werk der zweiten Schaffensphase, die 1983 mit einem Paukenschlag eröffnet wurde. Mit seinem innovativen Buch über die „Euthanasie“, ein Thema, das damals aus diversen Gründen so gut wie niemanden interessiert hatte. Um das zu verstehen, wage ich einen kleinen Rückblick.
Ernst Klee, geboren 1942 in einem Frankfurter Arbeiterquartier, Inhaber eines Gesellenbriefs als Sanitär- und Heizungstechniker, hatte als Externer am Laubach-Kolleg das Abitur nachgeholt, ehe er Studien der Theologie und Sozialpädagogik enttäuscht vorzeitig abbrach, um lieber praktisch als Journalist zu arbeiten.
In seine Wiege war ihm das Prädikat „Investigativer Journalist“ nicht gelegt worden, das man unter Wikipedia bei Eingabe seines Namens findet. Tatsächlich hat er sich bereits in den frühen siebziger Jahren einen Namen als kritischer unabhängiger Autor gemacht. Er gehörte neben anderen wie Hans Leyendecker, Jürgen Roth, Günter Wallraff zu jener winzigen Schar forschender Journalisten in Deutschland, die unser Wissen um den Zustand in den Randzonen unserer Gesellschaft voran-gebracht haben (siehe „Gefahrenzone Betrieb – Verschleiß und Erkrankung am Arbeitsplatz, 1977; Psychiatrie-Report, 1978; Pennbrüder und Stadtstreicher, Nichtsesshaften-Report, 1979).
Ernst Klee beschäftigte sich intensiv mit den von der Mehrheitsgesellschaft verleugneten Realitäten der sozial Randständigen, Strafgefangener, Gastarbeiter, Penner, Psychiatriepatienten, Behinderten. Er recherchierte wenn nötig under cover direkt vor Ort, in Gefängnissen, Obdachlosenasylen, psychiatrischen Anstalten, Behinderteneinrichtungen. Jahrelang wirkte er als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Ffm und Leiter des VHS-Kurses „Bewältigung der Umwelt“ mit Behinderten und Nichtbehinderten.
Seine großen Sozialreportagen für DIE ZEIT und die Stundenfeatures im Hessischen Rundfunk wurden schon bald Legende. Diese und seine Bücher begründeten den exzellenten Ruf des Autors bei seinem Publikum, das bald Züge einer Art Fangemeinde annahm. Zu den vielen praktischen Projekten und großen „Aufregern“ gehörte die „Frankfurter Straßenbahnblockade“, bei der am 18. Mai 1974 ein paar wenige Rollstuhlfahrer den gesamten Innenstadtverkehr lahmgelegt hatten. Ernst Klee war wie immer im Zentrum des Geschehens und wurde bald nach dieser Aktion von seinen MitstreiterInnen anerkennend „Behindertenpapst“ gerufen.
Im gleichen Jahr erschien der innovative „Behinderten-Report, zwei Jahre später ein Nachfolgeband „Behinderten-Report II – Wir lassen uns nicht abschieben, Bewusstwerdung und Befreiung der Behinderten“, zusammen wurden mehr als 150.000 Exemplaren verkauft. Die sog. Behinderten-Bewegung hatte begonnen, die BRD in kleinen Schritten zu verändern, z.B. mit rollstuhlgerechten Zugängen im öffentlichen Raum.
Seit diesen Jahren begann mein Kontakt zu Ernst Klee und fortan betreute ich alle nun folgenden Bücher als sein Lektor. Der stets in Jeans und zerknitterter Weste gekleidete, hochgewachsene Rebell mit seinem gewaltigen Lockenkopf war mir auf Anhieb sympathisch gewesen, weil er radikal die Perspektive der Betroffenen und Patienten einzunehmen pflegte.
Von niemandem ließ er sich den Schneid abkaufen. Auch nicht vom Landgericht Ffm am 8. Mai 1980, vor dem er mit fünftausend lautstarken MitstreiterInnen aus der gesamten BRD gegen ein skandalöses Urteil zu der Integration Behinderter demonstrierte.
Bereits nach zwei Monaten, Juli 1980, erschien dazu eine Dokumentation „Behinderte im Urlaub?“ Sie wurde von der Pressestelle desselben Landgerichts wegen einer formalen Petitesse per einst-weiliger Verfügung verboten (wir hatten den Namen der Klägerin, die im STERN bereits genannt worden war, im Faksimile des Urteils vom 25. Februar 1980 nicht geschwärzt. Die Folge war: 4.000 Bücher mussten eingestampft werden. Das war das einzige Mal, dass Ernst Klee und dem S. Fischer Verlag ein Fehler passiert ist (siehe in der Bibliographie „Behinderte im Urlaub? – Das Frankfurter Urteil, eine Dokumentation, 1980; Behindert – Über die Enteignung von Körper und Bewusstsein, ein kritisches Handbuch, 1980).
Was sollte nun danach noch kommen? Ich erinnere mich noch genau an ein langes Gespräch mit Ernst Klee im Drehrestaurant des einstigen Henninger-Turms in Frankfurt-Sachsenhausen. Er steckte offensichtlich in einer Schaffenskrise, er schien „ausgeschrieben“ zu sein. Dennoch kamen wir im Laufe des Abends auf die naheliegende Frage, was wohl dabei herauskäme, wenn Ernst Klee seine Schreibe auf die Zeit vor 1945 ausdehnte, wo er sich wie kaum ein Zweiter auskannte. Danach trennten wir uns ohne wirklich zu wissen, wohin die Reise gehen sollte.
In den folgenden zwei Jahren herrschte zwischen uns eine Art Funkstille, die nur von gelegentlichen telefonischen Berichten unterbrochen wurde, in denen er mich über die aktuellen Dinge informierte. Dabei stellte sich heraus, dass er sich in Archiven und bei Zeitzeugen in die medizinische Zeitgeschichte vor 1945 einarbeitete.
Gelegentlich trafen wir uns beim Italiener in Sachsenhausen zum Mittagessen, er bestellte wie immer „Saltimbocca“. Ein besonderes Treffen war im Pfarrgarten der Rödelheimer Cyriakus-Gemeinde, wo Elke Klee Gemeindepfarrerin war. Auszubildende des Verlags interviewten Ernst zu seinen neuen Forschungen, unter den weit ausladenden Nussbaumzweigen inmitten prächtig blühender Blumen und kultivierter Himbeerbüsche, eine Idylle, die ich nicht vergessen werde. Ernst liebte diesen Pfarr-garten, aus dem er die Kraft und Ausdauer für seine langwierigen Arbeiten schöpfen konnte.
Endlich, 1983, war es dann so weit. Ernst erschien im Verlag und legte mir ein faustdickes, eng beschriebenes Manuskript auf den Büchertisch. Sogleich erkannte ich beim Blättern, dass der Inhalt für die damaligen Verhältnisse höchst brisant war. Ernst hatte sich in das Thema „Euthanasie“ hinein-gearbeitet, in die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ im NS-Staat. Tief beeindruckt von Klees Forschungsleistung brachte der S. Fischer Verlag die fünfhundertseitige Monographie als Hardcover umgehend zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 1983 heraus (siehe „Euthanasie im NS-Staat – Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“, 1983).
Das war damals nicht nur der Beginn Ernst Klees zweiter Schaffensphase, die bis zu seinem Tod mehr als dreißig Jahre anhalten sollte, vielmehr dokumentierte der Autor damit, dass er entschlossen war, umsichtig wissenschaftliches Neuland selbständig zu erforschen.
Erwähnen muss ich, dass Ernst nicht allein auf weiter Flur war. Schon 1978 während des Frankfurter Psychiatriestreites der Professoren Bochnik und Pittrich bezüglich der umstrittenen Elektroschock-therapie und der Recherchen zu seinem Psychiatrie-Report von 1978 bzw. dem „Euthanasie“-Buch ist Ernst Klee auf die linksorientierte „Zeitung im Gesundheitswesen – Dr. med. Marbuse“ gestoßen. Diese hatte im Mai 1980 zu einem alternativen „Gesundheitstag“ aufgerufen, der zeitgleich mit dem 83. Deutschen Ärztetag in West-Berlin stattfinden sollte.
Zur Vorbereitung dieser Gegenveranstaltung für „kritische Ärzte“ veröffentlichte der Gesundheits-laden Berlin e.V. ein 192-seitiges, kommentiertes Programm, in dem als Thema Nr. 1 „Medizin im Nationalsozialismus“ und ein Forum“ Psychiatrie im Faschismus“ angekündigt wurde. Der Medizin-student Ellis Huber hatte damals diese Veranstaltung koordiniert. Sie generierte zu einem riesigen unvorhersehbaren Erfolg. 1.500 Ärztinnen und Ärzte, Medizinhistoriker und Journalisten beteiligten sich an diesen Foren, die von der offiziellen Mehrheits-Ärzteschaft strikt und hartnäckig im Vorfeld abgelehnt und geleugnet worden war.
Zusammen mit Mischerlich und Mielke „Medizin ohne Menschlichkeit“ von 1947 bzw. 1960 und dem Tagungsband gehörte Klees Monographie von 1983 über die „Euthanasie“ zu den grundlegenden Werken der medizinischen Zeitgeschichte. Klees Schilderungen waren direkt, schonungslos offen und aufrüttelnd, was sich in der Konsequenz polarisierend auswirken musste. Seine Arbeit war die eines investigativen Journalisten, die sogleich das Interesse der Leitmedien gefunden hatte und ein stetig wachsendes Publikum, das weit über die engen Fachgrenzen hinausreichte, wie sich in der Folgezeit noch herausstellen sollte.
Klee hat es gewagt, Hunderte von Täterinnen und Täter unverschlüsselt beim Namen zu nennen. Ich gestehe, dass ich diese Transparenz als Lektor begrüße, doch mich nicht gerade entspannt fühlte angesichts der drei Jahre zuvor gemachten Erfahrung einer einstweiligen Verfügung. Typisch für Klee war, dass er als Anwalt der Betroffenen mit seinem Buch dazu beitragen wollte, den zu Nummern reduzierten Opfern Gesicht und Identität zurückzugeben.
Der Themenkomplex war „heiß“. Nicht ohne Grund hatte sich bis dato kein Fachhistoriker systematisch an die „Euthanasie“-, Pharmazie- und Medizinverbrechen herangewagt. Das Thema war vor allem auch deswegen „heiß“, weil 1983 die meisten Täter und Mitwisser so gut wie nicht belangt worden waren, nahtlos ihre ärztlichen Tätigkeiten hatten fortführen können und über einflussreiche Stellungen in Verbänden und Forschungsverbünden sowie mit Hilfe prozessfreudiger Anwalts-kanzleien Einfluss nahmen auf die Politik der Verdrängung und Verleugnung.
Viele der jüngeren Zeitgenossen können heute nicht mehr so recht nachvollziehen, wie viel Courage und psychische Kraftanstrengung Autoren wie Klee damals benötigten, um sowohl in die verminte medizinische Zeitgeschichte einzudringen als auch dies noch mit offenem Visier zu tun.
Der Mut hat sich bewährt: Klee wie auch die kleine Schar kritischer Medizinhistoriker der frühen achtziger Jahre haben damals der Täterforschung heftig auf die Sprünge geholfen. Das war damals und ist sogar gelegentlich noch heute nicht gerne gesehen: Stichwort Täterschutz. Ernst erlebte den nicht nur bei Betroffenen, auch bei Behörden, wo es nicht selten hieß: „Türen zu, der Klee kommt.“
Infolge umfangreichen Quellenmaterials, das er ans Licht befördert hatte, konnte er bald zwei weitere Bände nachlegen, die Quellensammlung „Dokumente zur ‚Euthanasie‘“, 1985, und die Monographie „Was sie taten, was sie wurden – Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord“, 1986 über die Nachkriegskarrieren der „Euthanasie“-Ärzte, letzteres wurde zu seinem auflagenstärksten Werk.
Die „Euthanasie“-Trilogie wäre Klee nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung einiger weniger ebenso mutiger Archivare, z. B. in Wiesbaden, und Staatsanwälte, z.B. in Frankfurt und Ludwigsburg. Sie halfen mit Sachkenntnis sowie schöpferischer, aktiver und passiver Hilfestellung, so dass Klee seinen Großkopierer füttern konnte mit dokumentarischem Quellenmaterial, aus dem er dann mit vollen Händen zu schöpfen pflegte.
Nach diesem Paukenschlag befasste sich Ernst Klee vier Jahre lang mit dem Zweiten Weltkrieg. 1988 brachte er die Text-Bild-Dokumentation „Schöne Zeiten – Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer“, eine Dokumentation an den Juden in Polen und der Sowjetunion. Täter waren SS-Sonder-kommandos, die mit Wehrmachtruppenteilen gnadenlos ihr blutiges Handwerk betrieben haben (siehe „Gott mit uns – Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939 – 1945“, 1989).
Heute sagt sich das so leichthin, bei Erscheinen des Buches 1988 war das eine provozierende These. Ich erinnere mich noch an wütende Reaktionen aus dem Lesepublikum, ganz so wie acht Jahre später anlässlich der ersten Wehrmachtsausstellung 1996. Klees reich bebilderte Dokumentation „Schöne Zeiten“ wurde auf Anregung der Berliner Akademie der Künste in eine gleichnamige Ausstellung transformiert, die zwischen 1988 und 1990 in Deutschland, Österreich und Südtirol gezeigt wurde.
Um auf die Ausstellung angemessen aufmerksam zu machen, haben wir hochrangige Politiker, u.a. Bundes-, Landesminister und Bundestagsabgeordnete gewinnen können, die sie in 25 Orten feierlich eröffneten, was erwartungsgemäß große Beachtung in den örtlichen und überregionalen Medien hervorgerufen hat.
Ein Jahr darauf folgte 1989 die nicht minder aufrüttelnde Text-Bild-Dokumentation über den deutschen Angriffs-, Rassen- und Vernichtungskrieg im Osten unter dem Titel „Gott mit uns“, einem Wahlspruch des preußisch-deutschen Militarismus, der auf den Koppelschlössern aller Soldaten eingestanzt war. Auch hiermit wurde die Kooperation von SS und Wehrmacht dokumentiert.
In dichter Folge erschienen Publikationen über die Haltung der Kirchen im Nationalsozialismus „Die SA Jesu Christi – Die Kirchen im Banne Hitlers“, 1989; über das heikle Thema Sterbehilfe „Durch Zyankali erlöst – Sterbehilfe und Euthanasie heute“, 1990; über die Flucht NS-Prominenter und –Täter via der sog. ‚Rattenlinie‘ nach Südamerika mit Hilfe der katholischen Kirche „Persilscheine und falsche Pässe – Wie die Kirche den Nazis halfen“, 1991; über die versäumte Aufarbeitung der furchtbaren NS-Geschichte der Psychiatrie in Ost- und Westdeutschland „Irrsinn Ost. Irrsinn West. Psychiatrie in Deutschland“, 1993.
Neben seiner regen publizistischen Arbeit betätigte sich Ernst Klee immer wieder auch als Dokumentarfilmer. Mit seinem Filmbericht „Die Hölle von Ueckermünde“ (siehe YouTube) enthüllte er 1993 die katastrophalen Verhältnisse in der DDR-Psychiatrie. Die hr-Dokumentation „Sichten und Vernichten – Psychiatrie im Dritten Reich“ (siehe YouTube) folgte 1995. Der Fernsehfilm „Ärzte und Gewissen“, in dem Klee in nahezu einer Stunde den umstandslosen Menschenverbrauch (Juden, Zigeuner, Russen, Polen als Ersatz für Laborratten und Versuchskaninchen) Versuche für medizinische und pharmazeutische im Dritten Reich dokumentiert hat, schloss sich 1996 an.
Zurück zu seinen Büchern. Nach umfassenden Vorbereitungen erschien 1997 sein Werk „Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer“. Nahezu sämtliche Medien reagierten mit großen überwiegend zustimmenden Rezensionen. Stellvertretend für andere sei hier zitiert der Doyen der Medizin-historiker, Klaus Dörner, der in der Beilage der Frankfurter Rundschau zur Frankfurter Buchmesse bekannte: „ Die Lektüre dieses Buches gehört zu den deprimierendsten meines Lebens. Wieder einmal ist es kein Arzt, kein Historiker, kein Medizinhistoriker, sondern ein Journalist, Ernst Klee, der hilfsweise einspringt und der Medizin vormacht, was eine notwendige Selbstaufklärung bedeutete.“
Dörner fügte hinzu, bereits 1983 habe Klee mit seinem Buch „Euthanasie im NS-Staat“ der Psychiatrie einen ebensolchen „schmerzlichen und kränkenden Liebesdienst erwiesen“ (FR, 15.10.1997).
Sogleich auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von SZ und NDR kletterte „Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer“ mit 40.000 verkauften Exemplaren und wurde zu einem beachtlichen wirtschaftlichen Erfolg. Der investigative Journalist Klee hatte erneut einen Nerv der Zeit getroffen und dazu beigetragen, die längst fällige Diskussion der Rolle der Medizin und wissenschaftlichen Forschungsverbünde, wie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemein-schaft, in Bewegung zu setzen.
Erwähnt werden muss, dass Klee es wieder gewagt hatte, mehr als eintausend Personen beim Namen zu nennen, darunter viele Lehrstuhlinhaber und Medizinfunktionäre. Das gefiel wohl niemandem aus den genannten, häufig wieder höchst einflussreichen Kreisen, die versuchten, Klees Darstellung zu ignorieren oder zu desavouieren.
Man scheute sich nicht, sogar Petitessen aufzublasen. Beispielsweise war einem Mitarbeiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte aufgefallen, dass die Fußnoten nicht vorschriftsmäßig abgefasst waren. Doch Klees tatsächlich gelegentlich formal schwache Fußnoten pflegten immerhin in inhaltlicher Hinsicht so gewichtig zu sein, dass sich kein Ankläger erfolgreich gegen den Autor hatte durchsetzen können.
Ein anderes Beispiel: Der Frankfurter Historiker, Professor Notker Hammerstein, der zu jener Zeit an einer Geschichte der bereits erwähnten DFG saß, die die NS-Zeit reichlich vernebelte und später total verrissen werden sollte, meinte in seiner Rezension für die renommierte Historische Zeitschrift hervorheben zu müssen, dass Klee gar kein Historiker sei. Er schreibe als „geschickter und erfahrener Journalist“, was „dem schwierigen Thema wohl kaum angemessen“ sei.
Ähnlich abfällig wird sich 2003 auch der Berliner Historiker, Professor Henning Köhler, in der FAZ über Klees angeblich denunziatorische Arbeitsweise äußern. Umgehend wurde der Professor dafür in DIE ZEIT von dem Bochumer Kollegen, Hans Mommsen, scharf zurechtgewiesen. Wie schön hebt sich da die Feststellung des britischen Historikers Michael Burleigh ab, Klees Buch liefere „zahlreiche neue Erkenntnisse“ und „stelle zweifellos die bislang bedeutendste Untersuchung zur Rolle der Medizin im Dritten Reich“ dar (DIE ZEIT, 22. 08. 1997). Der Brite hatte offensichtlich keine Status-Probleme mit dem „Außenseiter“ Klee, dessen Bücher er regelmäßig im Time Literary Supplement (TLS) zu rezensieren pflegte.
Auch Raul Hilberg, der damalige Doyen der Holocaust-Forschung, selber ein Einzelgänger, wusste, wovon er sprach, wenn er nicht nur mir gegenüber Ernst Klees herausragender Einzelleistung immer wieder großen Respekt zollte. Klee wurde, wenige Ausnahmen zugestanden, von deutschen Zeit-historikern in seiner Bedeutung nicht erkannt und daher auch nicht angemessen zur Kenntnis genommen. Wie Ernst mir einmal sagte, hatte er es „zu seiner Arbeitsgrundlage gemacht“, dass er „diffamiert werde“. Schmunzelnd erzählte er manchmal, wie er immer mal wieder darauf gestoßen ist, dass seine Forschungsergebnisse heimlich, still und leise – selbstverständlich ohne Nachweis – von Zunftgenossen abgeschrieben worden waren.
Bei Lage der Dinge überraschte dann doch die Nachricht, dass Ernst Klee, dem Außenseiter im Wissenschaftsbetrieb, auf meine Anregung für seine bahnbrechenden Forschungen der Geschwister-Scholl-Preis 1997 zuerkannt wurde. In der Begründung der Jury heißt es: „Er macht nicht nur die Täter im Ärztekittel namhaft, sondern auch ihre Auftraggeber und Förderer in der DFG, der Pharma-industrie, den Forschunglabors und wissenschaftlichen Instituten. Das Buch vermittelt wichtige neue Erkenntnisse über den inneren Zusammenhang und das gesamte Ausmaß der Medizinverbrechen in der NS-Zeit.“
Ellis Huber, inzwischen Präsident der Berliner Ärztekammer, verneigte sich in seiner viel beachteten Laudatio, die übrigens anschließend in Medizinerkreisen heftig kritisiert wurde, und das noch 1997, mehr als fünfzig Jahre nach den NS-Verbrechen, und äußerte im Namen der deutschen Ärzteschaft vor der Jury, „die diese ermutigende Wahl getroffen hatte“. Ernst Klee habe „das Gewissen der deutschen Mediziner aufgerüttelt und ein Tabu brechen helfen, dass Ärztinnen und Ärzte in der BRD über vierzig Jahre hinweg errichtet hatten. Wir sind dabei, Lehren aus unserem Versagen zu ziehen und für eine Medizin zu kämpfen, die den Menschen dient.
Schließlich dankte der Kammerpräsident Ernst Klee persönlich: „Ihr Werk hilft uns, unsere Macht und Ohnmacht, unsere Verführbarkeit und unsere Stärke besser zu erkennen. Damit ist auch eine Chance eröffnet, eine bessere und menschliche Medizin zu verwirklichen.“
Vor und nach dem Geschwister-Scholl-Preis ist Ernst Klee noch öfter ausgezeichnet worden, z.B. hier in Frankfurt mit der Goethe-Plakette. Die Aufzählung aller seiner Preise, Medaillen und Urkunden wäre ihm unangenehm gewesen. Sie können bei Wikipedia nachgelesen werden. Erwähnt werden soll aber, dass 2005 eine Förderschule für körperliche und motorische Entwicklung in Mettingen (nahe Münster) nach ihm benannt wurde – eine Ehrung, auf die er immer besonders stolz war. Besonders gefreut hätte er sich über die hier anwesende Delegation aus Mettingen.
Ernst Klee war persönlich bescheiden und selbstbewusst zugleich. Seine Telefonnummer stand nicht im Telefonbuch, einen Internetanschluss lehnte er ab. Bis tief in die Nacht hinein pflegte er in seinem Rödelheimer Arbeitszimmer an seinem vorsintflutlichen PC zu arbeiten in einer Art von Festung umgeben von vollgestopften Regalen mit Akten und Büchern und Tabaksqualm. Es war daher angesagt, ihn nicht vor 11 Uhr vormittags anzurufen.
Entspannung fand er beim Fußballspielen mit Gleichaltrigen seines Viertels, bei Wanderungen im Taunus mit seiner Frau Elke oder auf den Höhenwegen entlang der Mosel. Bei einer psychisch auf die Dauer nur schwer aushaltbaren Forschertätigkeit werden ihm nicht zuletzt auch die stets frischen Blumen aus ihrem Pfarrgarten geholfen haben.
In den letzten zehn Jahren hat er ausschließlich an Personenlexika gearbeitet, weil er die Täter nicht unerkannt entkommen lassen und den Opfern symbolisch ihre Würde zurückgeben wollte. Insgesamt eine Berserkertätigkeit, die großen wissenschaftlichen Institutionen angestanden hätte. Diesen Mangel nutzte Klee, verfügte er doch nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit der NS-Zeit über einen ständig wachsenden Datenbestand. Um dazu nicht den Überblick nicht zu verlieren, war den neuen Möglichkeiten der Computertechnik geschuldet, deren Wert Ernst Klee für seine Arbeit bald erkannt hatte.
Da morgen Herr Professor Wolfgang Benz auf dem Campus über die lexikalischen Arbeiten sprechen wird, werde ich mich hier diesbezüglich auf ein paar Federstriche beschränken. 2003 erschien „Das Personenlexikon zum Dritten Reich“ mit dem für Klees Arbeitsweise charakteristischen Untertitel „Wer war was vor und nach 1945?“. Es enthält mehr als 4300 knapp formulierte biographische Einträge zu Personen aus Justiz, Kirchen, Wirtschaft, Wohlfahrtseinrichtungen, Kultur, Wissenschaft, Publizistik, Medizin, Polizei und Wehrmacht, darunter tragende Firmen aus NSDAP, SA und SS.
Das Personenlexikon war ohne Konkurrenz und geriet bald zu einem Standardwerk. Die Kritik lobte es über alle Maßen, endlich ein Nachschlagewerk, mit man etwas anfangen konnte. Nicht umsonst erklomm es bald nach Erscheinen die schon mehrfach erwähnte Sachbücherbestenliste. Vier Jahre darauf brachte Klee mit 4.000 weiteren biographischen Einträgen in zweites Nachschlagewerk heraus: „Das Kulturlexikon zum Dritten Reich“ – wiederum mit dem bekannten Kleeschen Untertitel. Verzeichnet sind die wichtigsten und bekanntesten Personen aus Archiv- und Büchereiwesen, bildender Kunst, Film, Geisteswissenschaften, Kunstgeschichte, Literatur, Musik, Rundfunk, Theater und anderen Bereichen – allesamt Täter und/oder tragenden Säulen des Systems.
Daneben werden auch wieder Hunderte von Opfern der nationalsozialistischen Kulturpolitik dokumentiert: Verfemte und Verfolgte, die durch Berufsverbote ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt, ins Exil gezwungen oder ermordet waren. Das dritte Lexikon, das die Namen möglichst aller in Auschwitz Tätigen veröffentlichen sollte, war ein langgehegter Wunsch Ernst Klees. Jahrelang hat er wie besessen darauf hingearbeitet unbeirrbar bis an den Rand seiner physischen Existenz. Noch drei Tage vor seinem Tod hat er sich schwer krebskrank an seinen Computer geschleppt, um an der letzten Fassung zu feilen.
Im Vorwort heißt es: Jeder, der sich mit Auschwitz beschäftige, bewege sich an der Grenze der Belastbarkeit, aber „was wir kaum ertragen beschreiben zu müssen, mussten Menschen am eigenen Leib erfahren“. Das Erscheinen seines Auschwitz-Lexikons hat er nicht mehr erlebt. Es erschien ein paar Monate nach seinem Tod unter dem Titel „Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer – und was aus ihnen wurde“.
In der größten Tötungsmaschinerie der NS-Zeit hatten etwa siebentausend Personen an unterschied-lichen Stellen „Dienst“ getan bei der Ermordung von einer Million Menschen. Rund die Hälfte von ihnen, genau 3.261 SS-Männer und SS-Aufseherinnen, sind in diesem dritten Lexikon festgehalten. Dazu stellvertretend mehr als 420 Opfer, also insgesamt fast wieder viertausend Personen. Alle diese Daten waren nur in mühsamster Forschungsarbeit zu generieren. Es gab praktisch kaum verwertbare Vorarbeiten. Hilfreich war, dass sich Ernst Klee auf den langjährigen Archivar und Bibliothekar des Fritz-Bauer-Instituts, Walter Renz, hat stützen können, der die Auschwitz-Prozess-Akten wie kaum ein zweiter kennt.
Die Personenprofile bestehen aus Geburtstag, Angaben zum Beruf, Dienstrang, Stellung, Lebenslauf und Tätigkeit in Auschwitz. Es folgen Hinweise auf die Tätigkeiten nach 1945 und Todesdatum. Mehr als dreihundert Sachbegriffe von „Abspritzen“ bis „Zyklon B“ führen direkt zu den entsprechenden Personenartikeln. Macht man sich die Mühe, mehrere solcher Begriffe aufzurufen, fügen sich die gewonnenen Informationen zu einem vielschichtigen Begriff von Auschwitz zusammen.
Der Rezensent der Süddeutschen Zeitung schrieb, Klees „fulminantes Personenlexikon über Täter, Gehilfen und Opfer im KZ Auschwitz“ sei ein „lexikalisches Mahnmal“, ein „enzyklopädischer Steinbruch“ (SZ, 17.12.2013) und fügte an: „Schade, dass dieses Buch auf keiner Bestsellerliste steht.“ Er hatte Recht, es kletterte aber immerhin auf Platz 6 der Sachbuch-Bestenliste.
Barbara Möller schrieb in der Rezension für DIE WELT (08.03.2014): „Die Lektüre des ‚zum Fürchten konkreten und lange überfälligen Buches‘ sei schier unerträglich“ und fügte hinzu: „Der Wissen-schaftsbetrieb hat diesem Außenseiter die Anerkennung bis zum Schluss verweigert“, wo man ihm doch für seine Verdienste Ehrendoktorwürden hätte antragen zu müssen. Nun sei es zu spät.“
Die Nachricht von Ernst Klees Tod verbreitete sich schnell, auch ins Ausland. Im Londoner GUARDIAN schrieb Sir Richard J. Evans, einer der großen britischen Zeithistoriker, in seinem Nachruf: „Klee........ wurde in den neunziger Jahren zu so etwas wie dem protestantischen Gewissen des vereinigten Deutschland. Seine Lebensleistung beweist, dass ein couragierter wie entschlossener Journalist das nationale Gewissen aufrütteln konnte, während sich akademische Historiker in Deutschland schamhaft zurückhielten.“
Die Zeitgeschichtsforschung hat am 18. Mai 2013 einen ungewöhnlichen Gelehrten verloren, der S. Fischer Verlag einen zentralen Autor und ich einen Freund.
Vielen Dank für Ihr Interesse.